Ich, mich, meins und meinereiner?
Sie sind stolz auf Ihre Individualität? Ihr Aussehen, Ihren Geschmack, Ihre Ziele, Ihren Lebensstil, Ihre Beziehungen und vielleicht sogar Ihre Gesundheit und Langlebigkeit?
Ziemlich normal, wenn Sie in einer städtischen Umgebung und nach westlichen Werten leben!
Und doch sind Sie, so selbstbestimmt und unabhängig Sie sich auch sehen mögen, im Grunde eine Gemeinschaft. Eine sehr besondere Gemeinschaft, ja, dennoch eine Gemeinschaft.
Wovon ist denn hier die Rede? Von Ihrem Mikrobiom, natürlich. Und nicht nur das in Ihrem Darm, sondern die mikrobielle Bevölkerung, die Ihren gesamten Verdauungstrakt besiedelt – beginnend in Ihrem Mund. Ganz zu schweigen von den Gemeinschaften, die sich überall auf Ihrer Haut, in Ihrer Nase und Lunge, in Ihren Ohren und um Ihre Augen sowie in und um Ihre urogenitalen Organe breitmachen.
Fühlen Sie sich jetzt nur leicht benommen oder regelrecht angewidert? Warten Sie nur ab, bis Sie noch mehr harte Fakten hören …
Ihr ganz persönlicher Dschungel!
Wer oder was genau bevölkert Sie also? Ihr Mikrobiom besteht hauptsächlich aus Bakterien, Pilzen, Archaeen, Protisten und Viren. Aber es sind nicht nur ein paar Dutzend, die Sie sich hier und da eingefangen haben – sei es an der Türklinke, beim Händeschütteln, beim Telefonieren oder … auf der Toilette. Nein, die Zahlen sind schlichtweg atemberaubend. Tatsächlich beherbergen Sie zwischen 10 und 100 Billionen mikrobielle Zellen.
Eigentlich übersteigt die Anzahl der Bakterien, die auf und in Ihrem Körper leben, die Anzahl Ihrer eigenen Zellen um den Faktor 1,3, wobei die Gesamtmasse etwa 1–3 % Ihres Körpers ausmacht. Wenn Sie also beispielsweise 60 kg wiegen, beläuft sich die Menge an „fremdem Leben“, das Sie kolonisiert, auf 0,6 bis 1,8 kg! Und dabei sind die kleineren Populationen von Archaeen, Viren und Pilzen noch nicht einmal berücksichtigt.
Wenn Sie immer noch nicht beeindruckt sind, haben Sie vielleicht nicht mitbekommen, was dies in Bezug auf Ihre DNA bedeutet!
Spannenderweise scheint unser Mikrobiom tatsächlich einen der wichtigsten Schlüssel zu unserer „Individualität“ zu enthalten – mehr noch als unser persönliches genetisches Profil. Wenn man sich z. B. nur auf das menschliche Darmmikrobiom beschränkt, enthält es „einen Genkatalog von 3,3 Millionen nicht redundanten Genen im Vergleich zu den ~22.000 Genen, die im gesamten menschlichen Genom vorhanden sind“. Unsere Dschungel-Metapher ist also gar nicht so weit hergeholt! Konkret bedeutet dies aber im Umkehrschluss: „Einzelne Menschen sind in Bezug auf ihr Wirtsgenom zu etwa 99,9 % identisch, können sich aber in Bezug auf das Mikrobiom ihrer Hand oder ihres Darms zu 80–90 % voneinander unterscheiden.“ (Ursell & al. 2012).
Darüber hinaus fand ein Team um den Harvard-Forscher Michael Snyder heraus, dass das Mikrobiom für ein Individuum so einzigartig ist wie ein Fingerabdruck. Auch bleibt seine Individualität über die Zeit hinweg bestehen und es beeinflusst unsere Gesundheit:
„Viele Menschen würden vermuten, dass die Bakterien, die wir gemeinsam haben, die wichtigsten und damit die stabilsten sind“, sagte Snyder. „Wir haben das genaue Gegenteil festgestellt – das persönliche Mikrobiom ist das stabilste. Es deutet außerdem darauf hin, dass unser persönliches Mikrobiom, das sich von dem aller anderen unterscheidet, für unsere Gesundheit ziemlich wichtig ist. Das ergibt Sinn, denn alle haben unterschiedliche gesundheitliche Grundwerte.“ (Williams, 2024)
Es wimmelt also nicht nur von nicht menschlichem Leben in Ihnen und um Sie herum, dieses Leben ist so unglaublich üppig und vielfältig, dass es sogar Ihre menschliche Individualität in den Schatten stellt und Ihre Gesundheit „fernsteuern“ könnte. Autsch!
Biologische Steuerräder
Der Biochemiker Hamid Zand erinnert uns jedoch treffend daran, dass unsere menschliche Einzigartigkeit (als Säugetier!) das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von mindestens drei „Informationssystemen“ ist, die mit der jeweiligen Umwelt interagieren (Zand 2024). Zuerst kommt das (Epi-)Genom, dann das zentrale Nervensystem bzw. das sogenannte Gehirn-Konnektom und schließlich das Mikrobiom als die einflussreichsten Modulatoren unserer Individualität – sei sie körperlich, mental oder emotional.
Daher bestimmt das Mikrobiom, als nur einer der entscheidenden Faktoren, nicht allein, wer wir sind, und wie wir handeln (können). Konzepte wie „Individualität“, „Willensfreiheit“, gar „persönliche Handlungsfähigkeit“ werden durch die Hervorhebung dieser sich überschneidenden Systeme allerdings sehr unscharf und können in der Tat fragwürdig erscheinen. Vor allem, wenn es einem klar wird, wie wenig bewusste Kontrolle man über die drei „-oms“ hat … tatsächlich: „wer“ ist „ich“ überhaupt?
Von Entfremdung zu Selbstbestimmung
Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum wir in unserem Titel auf den französischen Dichter Arthur Rimbaud [1854–1891] anspielen. Mit seinem berühmten Ausspruch „Ich ist ein anderer“ (je est un autre) wies er unter anderem auf die Notwendigkeit hin, dass Dichter so viele menschliche Perspektiven wie möglich sensorisch und emotional verinnerlichen, um sie in ihrem Werk treffend darstellen zu können. Rimbaud konnte jedoch noch nicht die Vielzahl an Perspektiven vorhersehen, die bereits in unserer individuellen Biologie verankert sind.
Fühlen *Sie* sich jetzt von all diesen internen und externen Kontrollinstanzen, die Ihre Individualität und Autonomie bedrohen, überwältigt?
Verzweifeln Sie nicht! Sie müssen sich nicht völlig entfremdet und entmachtet fühlen – selbst wenn das biologische Schicksal Sie an allen drei „-om“-Fronten im Stich gelassen hat. Und selbst wenn schlechte Gewohnheiten und/oder Erfahrungen einen scheinbar unauslöschlichen Abdruck auf Ihrer Gesundheit und Ihrem Selbstbewusstsein hinterlassen haben.
Tatsächlich entdeckt die moderne Medizin immer wieder neue Strategien zur Optimierung dieser Informationssysteme. Fachrichtungen wie Mikrobiologie, Biochemie, Neurologie und Psychiatrie, ganz zu schweigen von Immunologie und (Epi-)Genetik, arbeiten alle daran, eine bessere systemische Zusammenarbeit zu fördern, um Ihre Gesundheit und Lebensqualität zu verbessern. Und das Mikrobiom ist ein typisches Beispiel dafür – auch wenn die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt, wenn es darum geht, es vollständig zu erfassen und zu regulieren.
Aber wir sollten die Pferde nicht beim Schwanz aufzäumen! In unserem nächsten Beitrag werden wir zunächst versuchen zu erklären, woher unsere individuellen Mikrobiome kommen, wie sie sich entwickeln und auf welche vielfältige Weise sie unser Leben beeinflussen können.
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Quellen und weiterführende Literatur
(letzter Zugriff am 16.10.2024)
“10 Facts about your microbiome”, MyMicrobiome, Online: https://www.mymicrobiome.info/en/10-facts-about-the-microbiome
Looi, Mun-Keat, “The human microbiome: Everything you need to know about the 39 trillion microbes that call our bodies home”, BBC Science Focus, July 14, 2020. Online: https://www.sciencefocus.com/the-human-body/human-microbiome
Reynoso-García Jelissa , Miranda-Santiago Angel E. , Meléndez-Vázquez Natalie M. , Acosta-Pagán Kimil , Sánchez-Rosado Mitchell, Díaz-Rivera Jennifer , Rosado-Quiñones Angélica M. , Acevedo-Márquez Luis,Cruz-Roldán Lorna, Tosado-Rodríguez Eduardo L., Figueroa-Gispert María Del Mar, Godoy-Vitorino Filipa. “A complete guide to human microbiomes: Body niches, transmission, development, dysbiosis, and restoration”. Frontiers in Systems Biology, 2:2022. doi 10.3389/fsysb.2022.951403. Online: https://www.frontiersin.org/journals/systems-biology/articles/10.3389/fsysb.2022.951403/full
Gilbert JA, Blaser MJ, Caporaso JG, Jansson JK, Lynch SV, Knight R. Current understanding of the human microbiome. NatMed. 2018 Apr 10;24(4):392-400. doi: 10.1038/nm.4517. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7043356/
Sender R, Fuchs S, Milo R. “Are We Really Vastly Outnumbered? Revisiting the Ratio of Bacterial to Host Cells in Humans”. Cell. 2016 Jan 28;164(3):337-40.doi: 10.1016/j.cell.2016.01.013. Online: https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(16)00053-2?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0092867416000532%3Fshowall%3Dtrue
“Bacteria Versus Body Cells”, Beyond Science, eppendorf, January 10, 2022 https://www.eppendorf.com/de-de/beyond-science/health-medicine/bacteria-versus-body-cells-a-11-tie/
Ursell LK, Metcalf JL, Parfrey LW, Knight R. Defining the human microbiome. Nutr Rev. 2012 Aug;70 Suppl 1(Suppl 1):S38-44. doi: 10.1111/j.1753-4887.2012.00493.x. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3426293/
Williams, Sarah C.P. „Our bacteria are more personal than we thought, Stanford Medicine-led study shows”. Stanford Medicine News Center. March 12, 2024. Online: https://med.stanford.edu/news/all-news/2024/03/personal-microbiome.html
Zand, Hamid, “The Role of the Microbiome in What Makes Us Unique. How much of us is determined by our microbiome?”. Psychology Today. September 12, 2024. Online: https://www.psychologytoday.com/intl/blog/the-behavioral-microbiome/202409/the-role-of-the-microbiome-in-what-makes-us-unique
« Je est un autre – Domaine Public. Extrait de la lettre d’Arthur Rimbaud à Paul Demuny le 15 mai 1871 ». De Plume en Plume. Online: https://www.de-plume-en-plume.fr/histoire/je-est-un-autre-extrait-lettre-du-voyant
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