Den Anfang verpasst? Hier geht es zu Teil I und zu Teil II.
Salutogenese gegen Tagesschau
Was tun, wenn Kaltduschen und Fasten (Folge 2) zwar helfen, aber die schwarzen Wolken im Kopf nicht vertreiben? Diese Wolken, die Sie während der Tagesschau verfolgen, oder beim Spazieren im Park, wenn Sie ältere Menschen beim Flaschensammeln beobachten… Kann man seelische Resilienz überhaupt fördern? In Folge 1 wurde angedeutet, dass die Psychiatrie und die Sozialwissenschaften sich seit geraumer Zeit mit Resilienz beschäftigen. Und aus diesen Bereichen stammen fundierte Ideen, wie Sie Gelassenheit und Zuversicht im Alltag steigern können.
Ein besonders interessanter Ansatz stammt vom israelisch-amerikanischen Soziologen, Aaron Antonovsky, der 1970 eine vergleichende Studie in Israel durchführte. Er betrachtete dort eine Kohorte an 287 Frauen zwischen 45 und 54 Jahre alt. Davon hatten 77 einen Aufenthalt in einem Konzentrationslager hinter sich, die anderen 210 galten als Kontrollgruppe.
Alle Frauen wurden zu Themen wie Wechseljahre-Symptomatik, subjektivem Wohlgefühl sowie körperliche und emotionale Gesundheit befragt. Wie eingangs erwartet, ging es den Frauen in der Kontrollgruppe wesentlich besser als denjenigen, die mit dem KZ-Trauma noch ringen mussten. Dennoch fiel es den Forschern auf, dass ein nicht unbedeutender Anteil an ehemaligen Gefangenen mit dem Trauma so gut umgehen konnten, dass sie trotzdem erfüllte Leben führen konnten (s. Antonovksy & al., 1970).
Dies war für Antonovsky der Anlass, an einem Konzept zu feilen, das seitdem nicht mehr aus der Medizinsoziologie und des „Public Health“ wegzudenken ist. Die Salutogenese befasst sich mit der Entstehung und Erhaltung von Gesundheit. Demnach ist Gesundheit kein starrer Zustand, sondern – genauso wie Resilienz, Epigenetik und andere psychophysiologische Phänomene – ein dynamischer Prozess. Zentral darin ist das Konzept der Kohärenz. Sie ergibt sich wiederum aus drei Faktoren: die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit. Nach diesem Modell muss der Mensch, um zu gedeihen, die Zusammenhänge des Lebens verstehen. Er muss überzeugt sein, dass er sein Leben selbst gestalten kann und, nicht zuletzt, muss er Sinn darin sehen. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, kann Krankheit Fuß fassen (Pathogenese). Im Alltag wird dann permanent zwischen Risiko-und Schutzfaktoren abgewogen.
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Als Schutzfaktoren werden Faktoren bezeichnet,die die Auftretenswahrscheinlichkeit von Störungen beim Vorliegen von Belastungen vermindern. Schutzfaktoren sollten dabei nicht lediglich als das Gegenteil oder das Fehlen von Gesundheits- oder Entwicklungsrisiken betrachtet werden. […]
Als personale (auch: persönliche oder interne) Schutzfaktoren bezeichnet man individuelle Lebenskompetenzen (englisch: life skills), Persönlichkeitsmerkmale und spezifische Bewältigungsstrategien, aber auch körperliche Schutzfaktoren wie ein stabiles, widerstandsfähiges Immunsystem und körperliche Gesundheit. Altersübergreifend werden eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, gute Selbstregulationsfähigkeiten, eine internale Kontrollüberzeugung, dispositioneller Optimismus sowie die Fähigkeit zum Erleben positiver Emotionen als protektiv angesehen −wobei die Anzahl und methodische Qualität der Studien zu den einzelnen Faktoren sehr unterschiedlich ist. […]
Unter sozialen (auch: externen, umweltbezogenen oder ökologischen) Schutzfaktoren versteht man Faktoren der sozialen Umwelt eines Menschen. Hier wird häufig die Sicherung von Grundbedingungen wie angemessener Ernährung, ausreichendem Wohnraum und Erwerbsarbeit genannt. Diese Faktoren haben jedoch eher eine allgemein positive Wirkung auf die Gesundheit, als dass sie unter risikoreichen Bedingungen spezifisch wirksam werden. Als stabilster Prädiktor für eine resiliente Entwicklung wurde eine unterstützende und zugewandte Beziehung identifiziert.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA)
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Resilienz - Szene 3
Die dritte Reihe
Dieter und Theresia sitzen ergriffen vor der Tagesschau. Seine Hand schweift kurz über die Erdnuss-Schüssel und landet wieder leer auf der Armlehne. Die Bilder aus dem Osten verderben einem den Appetit. Mit monotoner Stimme erwähnt Therese die ellenlange Tafel-Schlange, an der sie heute beim Einkaufen vorbeigefahren ist. Entgeistert schauen die beiden in die gemütlichen Flammen des Kamins: Trost lässt sich aber dort auch nicht finden.
Ein paar Straßen weiter legt Fabian das Handy weg und reibt sich die Augen. Auf einmal stockt sein Atem, dann atmet er langsam aus und blickt wieder zögerlich auf das Display. Hier steht die Stadtwerke-Meldung, schwarz auf weiß: ab Januar schnellt der Gaspreis schon wieder hoch. Diesmal wird es 93% teurer als bisher. Wie soll das bitte gehen? Das neue Reihenhaus können sie nie im Leben abbezahlen...
Sofie, die Freundin seiner Tochter, wohnt zwar vornehmer, aber auch sie ist entsetzt. Nein, sie kocht vor Wut. Die blöden Eltern verstehen ja rein gar nichts: der Planet brennt!! Dennoch wird morgen eine Grillparty im Garten veranstaltet, und da werden die beiden Lustiges zum letzten Seychellen-Urlaub erzählen. Plötzlich sieht Sofie einen riesigen CO₂-Fußabdruck auf sich zukommen und sie wird endgültig ausgelöscht.
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Ein wundervolles Unglück?
In einer spannenden „Planet Wissen“ Dokumentation zu Resilienz erzählt der deutsche Psychiater und Psychotherapeut, Christian Peter Dogs, von einer besonders traumatisierenden Kindheit. Seine eigene Resilienz (und Resilienz allgemein) sieht er darin, dass er sich trotz erheblichen Widrigkeiten seinen Herausforderungen gewachsen fühlte, sich als selbstwirksam erlebte und ein realistisches Selbstbild entwickeln konnte. Wenn sich Wertschätzung, Kohärenz und Zuversicht dazugesellen, ist das Individuum noch besser ausgerüstet. Auch betont er die Wichtigkeit, eine hohe soziale Kompetenz zu entwickeln – sprich zu lernen, wie man mit Gefühlen und Stimmungen umgeht. Gefühle gehören zugelassen, dennoch reguliert und Konfliktfähigkeit kann trainiert werden, da die Neuroplastizität des Gehirns selbst bei Erwachsenen ausgeprägt ist.
Ähnlich tragisch verhielt es sich beim Psychiater, Boris Cyrulnik, der französische „Papst der Resilienz“. Nach einer schrecklichen Kindheit, in der seine jüdischen Eltern deportiert und ermordet wurden, wuchs er hin- und hergerissen zwischen Tante und Pflegefamilie auf. Dennoch sieht er in seinem Schicksal und im demjenigen zahlreicher Patienten die Möglichkeit einer unglaublichen Wende, die er als „wundervolles Unglück“ betrachtet. Für ihn sind entscheidende Faktoren der Resilienz erstens ein starker Lebenswille, den sich ein Säugling in einer sicheren Umgebung aneignet. Zweitens benötigt das Kind die persönliche Unterstützung einer wohlwollenden Person. Drittens zählt die Fähigkeit, einen Sinn selbst in tragischen Umständen zu finden, also eine kohärente interne Geschichte zu pflegen. Auf dieser Basis können Emotionen durch kreative Wege wie zum Beispiel Schreiben verarbeitet werden und daraus Resilienz entstehen.
Jeder Organismus, der sich anpassen will, muss innovativ sein, ein Abenteuer außerhalb der Norm wagen, Abnormales hervorbringen, um zu sehen, ob es funktioniert, denn Leben heißt, ein Risiko einzugehen.
Boris Cyrulnik
Grüne Strategien gegen Alltagsblues
Vielleicht stöhnen Sie jetzt und denken sich: „Bei mir läuft es gerade noch nicht so tragisch, aber ich komme mit den diffusen Bedrohungen um mich herum nicht mehr klar“. Stressoren müssen tatsächlich nicht unmittelbar bedrohlich sein, um sich dennoch sehr reell anzufühlen.
Ein besonders aussichtsreicher Weg, um Alltags-Resilienz zu kultivieren, ist eine Strategie, die Ihre Oma auch gutgeheißen hätte und die sich in Coronazeiten auch bewährt hat. Die Intensivierung des Kontakts zur Natur – am besten in der Gruppe und in Form gemeinsamer Wanderungen. Einige Studienkonnten eine Besserung des Wohlbefindens, eine deutliche Milderung der psychologischen Symptome nach schweren Ereignissen sowie allgemeine positive Auswirkungen auf die seelische Gesundheit feststellen (s. Marselle & al., 2019 und Inguli & al. 2013).
Eine noch gezieltere Auseinandersetzung mit Natur und Gemeinschaft bietet Gartenarbeit, wie sie in Gemeinschaftsgärten angeboten wird (s. Koay 2020), die noch ausgeprägtere Vorteile als individuelles Gärtnern mit sich bringt. Besonders spannend in dem Fall ist, dass Resilienz sich auf mehreren Ebenen wie ein roter – oder in dem Fall grüner – Faden durchzieht: vom Individuum zur Gemeinschaft über die Umwelt und die Lebensmittelversorgung.
Gemeinschaft in Eigenverantwortung
Ein Ehrenamt kann auch ein wertvoller Weg sein, um diese hybride Resilienz zu erzeugen, wobei scheinbar besonders ältere Menschen von einem aktiven gemeinschaftlichen Engagement profitieren – auch wenn jüngere Menschen meistens rekrutiert werden (s. Kleindienst & al. 2014 und Resnick & al. 2011). Dennoch wird in vielen Artikeln auch auf die dunklere Seite des Ehrenamts – nämlich die mögliche Mitgefühlsmüdigkeit („compassion fatigue“), die dadurch entstehen kann, wenn Ehrenamtliche mit Überforderung, Überarbeitung oder geringe Wertschätzung kämpfen. In Krisenzeiten müssen also Individuen auch die richtige Einsatz-Dosierung für sich herausfinden.
Jedes Mal, wenn ich zu Hause bin, werde ich mit den üblichen Ärgernissen der meisten Nigerianer konfrontiert: unsere gescheiterte Infrastruktur, unsere gescheiterte Regierung, aber auch mit der unglaublichen Resilienz der Menschen, die trotz statt dank der Regierung gedeihen.
Chimamanda Ngozi Adichie: The danger of a single story | TED 7 Oct 2009| (16:47 – 17:01) - YouTube
Zuletzt sollte nochmals betont werden, dass Resilienz für ein Individuum nur dann wirklich gewinnbringend ist, wenn sie weitgehend persönlich und freiwillig gesteuert wird. Ja, Resilienz kann leider auch missbraucht werden, insbesondere wenn sie „zentral“ oder „hierarchisch“ angeordnet wird, wie manche Konzerne und Regierungen es gerne tun. In Ihrem Buch „Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit“ warnt Soziologin Stefanie Graefe vor Resilienz als „Alternativangebot zu Kritik“ und „als starke Individualisierung von Problemen, die eindeutig strukturell bedingt sind“ (s. Graefe, 2021). Dies kann dazu führen, dass manche Unternehmen und Institutionen ihren Führungskräften etwa Resilienz-Retreats anbieten, anstatt an bessere Arbeitsbedingungen zu schrauben. Paradoxerweise könnte somit erhöhte Resilienz aus längerfristiger Perspektive zu Überarbeitung und Burnout führen.
Wir wünschen also beste Resilienz – aber nur selbst verordnet!
Haben Sie die ersten Folgen verpasst? Hier geht es zur Ankündigung, zur Folge 1 und hier zur Folge 2.
Quellen
Antonovsky, A., Maoz, B., Dowty, N., Wijsenbeek, H., "Twenty-five years later: A limited study of the sequelae of the concentration camp experience”. Social Psychiatry 6, 186–193(1971). https://doi.org/10.1007/BF00578367
Antonovsky, Aaron. Salutogenese- Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt, 1997.
Bengel, Jürgen, Fröhlich-Gildhoff, Klaus, Lyssenko, Lisa, Rönnau-Böse, Maike, Resilienz und Schutzfaktoren, Bundeszentrale für gesunheitliche Aufklärung (BzgA),30.05.2022 Online: https://leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/resilienz-und-schutzfaktoren/
Cyrulnik, Boris, Un merveilleux malheur, Paris : Édition Odile Jacob, 2002
Marselle, Melissa R., Sara L. Warber, and Katherine N. Irvine. 2019. "Growing Resilience through Interaction with Nature: Can Group Walks in Nature Buffer the Effects of Stressful Life Events on Mental Health?" International Journal of Environmental Research and Public Health 16, no. 6: 986. https://doi.org/10.3390/ijerph16060986 Online: https://www.mdpi.com/1660-4601/16/6/986#
Keith Ingulli, Gordon Lindbloom. “Connection to Nature and Psychological Resilience”. Ecopsychology. Volume: 5 Issue 1: March 29, 2013 52-55. http://doi.org/10.1089/eco.2012.0042 Online: https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/eco.2012.0042
Koay, Way Inn, and Denise Dillon. 2020. "Community Gardening: Stress, Well-Being, and Resilience Potentials", International Journal of Environmental Research and Public Health 17, no. 18: 6740. https://doi.org/10.3390/ijerph17186740 Online: https://www.mdpi.com/1660-4601/17/18/6740
Klinedinst, N. Jennifer; Resnick, Barbara. „Resilience and Volunteering: A Critical Step to Maintaining Function Among Older Adults With Depressive Symptoms and Mild Cognitive Impairment”. Topics in Geriatric Rehabilitation: July/September 2014 - Volume 30 - Issue 3 - p 181-187 doi:10.1097/TGR.0000000000000023
Resilience in Aging: Concepts, Research, and Outcomes. Barbara Resnick, Lisa P. Gwyther, und Karen A. Roberto (Eds), New York: Springer, 2011
„Resilienz-Hype. Soziologin Graefe: ‚Resilienz ist ein Alternativangebot zur Kritik‘“. Interview / Beate Hausbichler, Wien: DerStandard, 6. Januar 2021
Abbildungen
Abbildung 1
Engin Akyurt/pexels
Abbildung 2
Yogendra Singh/pexels
Abbildung 3
Florian Krause, Dreieck der Salutogenese
CC BY-SA 4.0<https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dreieck_der_Salutogenese.png
Abbildung 4
Matheus Ferrero/pexels
Abbildung 5
Pixabay/pexels
Abbildung 6
Anna Shvets/pexels