Zurück zur Übersicht

Prolongevity – Immobilisierung: eine neue Zivilisationskrankheit?

Sind Bequemlichkeit und Komfort Ihre „sanften“ Killer?

Dr. Gwen Bingle
|
9.2.2024

Ratespiel

Wollen Sie spielen? Beginnen wir mit zwei Rätseln:

1. Was haben Home-Office-Verträge, Aufzüge, Online-Banking, Autos, Teleshopping und Fernbedienungen gemeinsam?

Ja, Sie haben es erraten: Diese Technologien oder technischgeprägten Routinen wurden wie viele andere entwickelt, um Ihnen das Leben zu erleichtern, indem sie die (scheinbare) Beschwerlichkeit oder die unpraktischen Seiten des (vor)industriellen Lebens abbauen.

Aber auch ohne Profi-Verschwörungstheoretiker zu sein, fragen Sie sich vielleicht nach den unbeabsichtigten Nebenwirkungen, wenn Sie sich schmerzhaft aus Ihrem Bürostuhl oder Ihrer Couch erheben. Was wäre, wenn diese Technologien entwickelt wurden, um Sie erstarren zu lassen?

2. Und was ist der gemeinsame Nenner von gesunden, aktiven und neugierigen älteren Menschen?

Okay, das war einfach: Die Antwort ist in der Frage enthalten. Sie sind aktiv: Sie bewegen sich! Wenn sie nicht gerade im Garten Unkraut jäten, fahren sie mit dem Fahrrad am Fluss entlang, passen auf eine wilde Kinderschar auf, nehmen an einem neuen Salsa-Kurs teil oder machen einen Wanderurlaub im Südtirol. …

Das zweite „Geschenk“ der industriellen Revolution

Kürzlich haben wir die außerordentlich schnellen und schädlichen Auswirkungen von Glukose (auch bekannt als Zucker und Stärke) auf die westliche Ernährung untersucht und sie als ein sehr junges Phänomen in der Geschichte der Menschheit hervorgehoben.

Unsere postmoderne „Erstarrungskultur“ weist einen ähnlichen Zeitrahmen auf. Wie Glukose hat sich auch die Immobilisierung in den letzten Jahrhunderten langsam, aber sicher in die westliche Kultur eingeschlichen. Und jetzt, angesichts der weltweit zunehmenden Belastung durch Fettleibigkeit, Diabetes, koronare Herzkrankheiten und alle Arten von Gelenk- und Muskelschmerzen, scheinen auch nicht westliche Kulturen damit infiziert worden zu sein.

Schäfer mit seinen Schafen

Die Wiederentdeckung der Blue Zone „Moves“

Bei der Diskussion über die sogenannten Blue-Zone-Kulturen liegt der Schwerpunkt häufig auf der Ernährung und gelegentlich auf Gemeinschaft oder Spiritualität. Diese Aspekte sind zweifellos von entscheidender Bedeutung, aber ein besonders auffälliges Merkmal aller Gemeinschaften der Blauen Zone ist, dass die Älteren scheinbar nie die Füße hochlegen.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie Triathlons laufen, das Fitness-Studio besuchen oder mit dem neuesten HIIT-Protokoll experimentieren. Stattdessen bewegen sie sich ganz natürlich. Wie ein Rundtischgespräch zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit es neulich treffend formulierte:

Die Menschen, die weltweit am längsten leben, machen keinen Sport. In den blauen Zonen beobachtete das Team von Buettner, dass die Menschen etwa alle 20 Minuten zur Bewegung angeregt wurden. Sie arbeiteten zum Beispiel im Garten, kneteten ihr eigenes Brot und benutzten handbetriebene Werkzeuge; ihre Häuser waren nicht mit Annehmlichkeiten ausgestattet. Wenn sie ausgingen, z. B. in die Schule, in die Arbeit, zu einem Freund, in ein Restaurant oder zu geselligen Treffs, waren sie fast immer zu Fuß unterwegs."

Der runde Tisch kam dann zu dem Schluss, dass „Bewegung in ihr tägliches Leben integriert ist“. Doch im Gegensatz zu Stadtbewohnern scheint die Integration der Bewegung in das tägliche Leben der Blauen Zonen ganz unbewusst zu erfolgen. In der Tat ist Bewegung einfach ein Nebenprodukt eines Lebensstils, der nicht auf Komfort und Bequemlichkeit fixiert ist.

Man denke nur an die Ausdauer der Hirten der sardischen Blauen Zone, die kilometerweit bergauf gehen und mühelos schwere Steinmauern wieder aufbauen. Dan Buettner beschreibt seine Begegnung mit dem Hirten Tonino, einem besonders rüstigen 75-jährigen Vorbild: „Es war 9:45 Uhr an einem kühlen Novembermorgen. Tonino war seit 4 Uhr auf den Beinen und hatte bereits seine Schafe geweidet, Holz geschnitten, Olivenbäume beschnitten, seine Kühe gefüttert und diese 18 Monate alte Kuh ausgeweidet, die nun mit gespreizten Beinen vom Dachbalken hing.“

Frau im Treppenhaus

„Natürliche“ Bewegung in der Stadt

Was schlagen wir also vor? In eine alpine „Hütte“ in den Schweizer Bergen ziehen oder eine „Hacienda“ in Südspanien kaufen?

Das würde Ihnen sicherlich viel mehr natürliche Bewegung im Alltag bieten, ist aber für die meisten Menschen nicht sehr plausibel. Wir empfehlen Ihnen also nicht, Ihr Fitnessstudio-Abonnement zu kündigen, Ihre Halbmarathon-Pläne auf Eis zu legen oder Ihre Pilates-Kurse abzubrechen. Aber selbst wenn Ihr Lebensstil eher städtisch und/oder statisch geprägt ist, gibt es viele Routinen, die Sie in Ihren Alltag integrieren können und die Ihnen zumindest ein gewisses Maß an „natürlicher“ Bewegung ermöglichen.

Je nach Umgebung und persönlichen Umständen können Sie sich selbst kleine Herausforderungen stellen, wie:

  • Zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit gehen bzw. fahren,
  • auf Aufzüge und Rolltreppen verzichten zugunsten der guten alten Treppe,
  • zu Fuß einkaufen gehen und die Einkäufe selbst tragen,
  • in ein Stehpult oder ein Schreibtischgerät für eine dynamischere Körperhaltung investieren,
  • einen Gemüse-/Blumengarten anlegen oder einem Gemeinschaftsgarten beitreten,
  • aktive Heimwerkerprojekte am Wochenende planen, anstatt sich mit einem Bier auf die Couch zu verziehen,
  • mehr Wanderungen, zügige Spaziergänge oder Schwimmen in die Freizeit einbauen,
  • und vielleicht sogar gelegentlich rennen, um den Bus zu erwischen …

Schon zwei oder drei dieser Maßnahmen können Ihr allgemeines Wohlbefinden und damit auch Ihre Lebenserwartung beeinflussen. Testen Sie doch einmal, wie gut es sich anfühlt, nicht mehr bis in den fünften Stock zu keuchen oder mühelos mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren.

Von Bequemlichkeit zu echter Lebensqualität?

Denn genau das ist das Problem mit Komfort und Bequemlichkeit: Die Energie, die sie Ihnen scheinbar ersparen, ist buchstäblich die Energie, die Sie vor den Übeln einer sitzenden Lebensweise bewahren könnte.

Dieses besonders perverse Paradoxon ist nur einer der vielen unbeabsichtigten Nebeneffekte, die eine zu starke Technik-Abhängigkeit mit sich bringt – wie bereits von zahlreichen Soziologen, Anthropologen und Technikhistorikern hervorgehoben wurde.

Wir fordern Sie daher heraus, den Kreislauf dieser Abhängigkeit zumindest gelegentlich zu durchbrechen – Ihrer Gesundheit zuliebe! Ja, das Unkrautjäten im Garten oder die Radtour durch die Stadt mögen sich anfangs wie harte Arbeit anfühlen. Aber die Befriedigung, die Sie letztlich aus diesen Aktivitäten spüren, wird sich nicht nur auf Ihre körperliche, sondern auch auf Ihre geistige und emotionale Gesundheit auswirken, ganz zu schweigen von der Auswirkung auf Ihre Lebensdauer.

Frau mit Gießkanne im Garten

++++

Quellen und weiterführende Literatur

Frank W. Booth, Christian K. Roberts, John P. Thyfault, Gregory N. Ruegsegger, and Ryan G. Toedebusch, Role of Inactivity in Chronic Diseases: Evolutionary Insight and Pathophysiological Mechanisms, Physiological Reviews 2017 97:4,1351-1402. https://doi.org/10.1152/physrev.00019.2016. Online: https://journals.physiology.org/doi/full/10.1152/physrev.00019.2016

Freese J, Klement RJ, Ruiz-Núñez B, Schwarz S, Lötzerich H. "The sedentary (r)evolution: Have we lost our metabolic flexibility?" F1000 Res. 2017 Oct 2;6:1787. doi:10.12688/f1000research.12724.2. PMID: 29225776; PMCID: PMC5710317. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5710317/

J. Ildefonzo Arocha Rodulfo, "Sedentarismo, la enfermedad del siglo xxi", Clínica eInvestigación en Arteriosclerosis, Volume 31, Issue 5, 2019, Pages 233-240. https://doi.org/10.1016/j.arteri.2019.04.004. Online (auf English): https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0214916819300543

Jérémy Raffin, Philipe de Souto Barreto, Anne Pavy Le Traon, Bruno Vellas, Mylène Aubertin-Leheudre, Yves Rolland, “Sedentary behavior and the biological hallmarks of aging”, Ageing Research Reviews, Volume 83, 2023, 101807. https://doi.org/10.1016/j.arr.2022.101807. Online: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1568163722002495

Roundtable on Population Health Improvement; Board on Population Health and Public Health Practice; Institute of Medicine. Business Engagement in Building Healthy Communities: Workshop Summary. Washington (DC): National Academies Press (US);2015 May 8. 2, Lessons from the Blue Zones®. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK298903/

Buettner, Dan. The Blue Zone: Lessons for Living Longer from the People Who've Lived the Longest. Washington: National Geographic Books, 2008, p. 42.

Schwartz-Cowan, Ruth. More Work for Mother: The Ironies of Household Technology from the Open Hearth to the Microwave. New York: Basic Books. 1983.

Abbildungen

RollingCamera/ iStock

Gül Işık / pexels

Pandit Wiguna / pexels

Andrea Piacquadio / pexels

 

BEITRAG VON
Dr. Gwen Bingle
epiAge Deutschland Content & Customer Relations
Zurück zur Übersicht
© epi-age.de 2024