Das Opium des Volkes
In unserem vorherigen Beitrag haben wir festgestellt, wie raffinierter Zucker und Stärke die moderne Ernährung erobert haben und unsere Gehirne sich bei der Verarbeitung im ständigen Belohnungsmodus befinden.
Kein Wunder, dass wir evolutionär überfordert sind, wenn unser aktueller Zuckerkonsum fünf- oder sechsmal so hoch ist wie Mitte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht haben Sie sich heute Morgen beim Aufwachen sogar ein wenig verkatert gefühlt, wenn Sie sich nach einem Pizza- oder Pasta-Abendessen noch eine Limo oder eine Tafel Schokolade gegönnt haben.
Tatsächlich hat nicht nur unsere Gehirn-Hardware Schwierigkeiten mit der Verarbeitung von drogenähnlichen, raffinierten Kohlenhydraten. Stimmung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und sogar Gedächtnis leiden auch unter dem Übermaß. Und abgesehen von dem „Brain Fog“ und der allgemeinen Trägheit haben Sie vielleicht auch Muskelkater, steife Gelenke oder Falten und Pickel im Gesicht bemerkt, da eine Zuckerüberladung viel mehr als nur unsere Gehirnchemie beeinträchtigt.
Und man muss nicht alt (oder älter) sein, um die kumulativen Auswirkungen des „Zuckerdopings“ zu bemerken.
Man muss sich nur einmal die Stimmung am Ende einer Kindergeburtstagsparty ansehen, wenn die jungen Gäste Limonade und Unmengen an Kuchen, Eis und Gummibärchen verputzt haben. Das Zucker-„High“ äußert sich in manischem Herumrennen, Schreien und allgemeinem Chaos. Und warten Sie nur ab, bis der Paroxysmus erreicht ist und die tränenreiche Hysterie einsetzt, wenn sich die Kinder verabschieden müssen…
Tatsächlich belastet übermäßiger Zuckerkonsum unseren Körper ähnlich wie eine harte Droge, und dies in jedem Alter und auf vielfältige Weise. Wie die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten herausgefunden hat, wirkt Zucker nicht nur auf die Zähne, sondern auch auf die Haut, das Herz, die Leber und den Körperumfang, um nur ein paar Baustellen zu nennen.
Er/sie hat Zucker …
Natürlich ist und bleibt Diabetes das Aushängeschild für zuckerbedingte Krankheiten – und zwar in beiden Varianten: Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2.
Interessanterweise bezeichnen deutschsprachige Menschen Diabetes umgangssprachlich als „Zucker“ wie in „er/sie hat Zucker“. Tatsächlich könnte der übermäßige Glukoseverzehr eine größere Rolle beim Ausbruch beider Formen der Krankheit spielen, als wir bisher dachten – auch wenn andere wichtige Faktoren mitmischen.
Meistens wird Typ-1-Diabetes als eine nicht so weit verbreitete Autoimmunerkrankung betrachtet, die nicht direkt mit übermäßigem Zuckerkonsum zusammenhängt. Beunruhigenderweise scheint die Prävalenz jedoch stark zuzunehmen – was bedeutet, dass Faktoren jenseits der Genetik eine Rolle spielen. Und obwohl die Ursachen für diesen Anstieg multifaktoriell zu sein scheinen (z. B. Mikrobiom-Probleme sowie ökologische und geografische Faktoren), könnten der Lebensstil und insbesondere die schlechte Ernährung sowie Adipositas ein wesentlicher Auslöser sein (Ogrotis & al., 2023).
Beim Typ-2-Diabetes scheint die Ursache klarer zu sein, da wir ihn oft als Lebensstilkrankheit bezeichnen. Abgesehen von genetischen Veranlagungen und begleitenden Krankheiten ist der Lebensstil in all seinen Facetten ein unbestreitbarer Faktor. Genauer gesagt können Übergewicht in Verbindung mit ungesunder Ernährung sowie Bewegungsmangel, Schlafmangel, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, Stress und Leben in der Stadt den Ausbruch vom „Altersdiabetes“ begünstigen, wie er oft fälschlicherweise bezeichnet wird. In der Tat nimmt die Prävalenz von Typ-2-Diabetes mit zunehmendem Alter zu, aber der Lebensstil von Teenagern – geprägt von Junkfood und Bewegungsmangel oder anderen schädlichen Verhaltensweisen – führt dazu, dass das Alter bei Ausbruch der Krankheit dramatisch gesunken ist.
Ein zuckersüßer Atlas
All dies trägt zu einer Situation bei, die als internationaler Gesundheitsnotstand bezeichnet werden kann. Tatsächlich leben derzeit 537 Millionen Erwachsene weltweit mit Diabetes, und bis 2045 könnte diese Zahl auf 783 Millionen ansteigen – mit anderen Worten, weit über die derzeitige Bevölkerungszahl Europas hinaus (Diabetes Atlas, online).
Während die Inzidenz je nach Region stark variiert, stellt man besonders brisant fest, dass das westpazifische Gebiet sowie der Mittlere Osten, Nordafrika und die nordamerikanischen und karibischen Regionen am stärksten von der Krankheit betroffen sind.
Der Fall des westlichen Pazifiks kann als Sinnbild für ein umfassenderes Problem des globalen Gesundheitswesens stehen. Indigene Bevölkerungsgruppen sind tatsächlich unverhältnismäßig stark betroffen, weil sie einer systemischen kulturellen und wirtschaftlichen Unterdrückung ausgesetzt sind, in Form von „Mangel an Bildung, Armut und unzureichenden Lebensbedingungen aufgrund von Einkommensmangel“. (Cheran & al. 2018).
In den beiden anderen Regionen scheinen jedoch in erster Linie die Ernährung und der Bewegungsmangel die wahrscheinlichsten Auslöser zu sein. Man denke nur an die Fladenbrot- oder Baklava-Berge, die in Nordafrika oder im Nahen Osten mit extrem süßem Tee und Kaffee serviert werden. Oder an die Nuggets-, Pommes- oder Softdrink-Eimer, die man in jedem Fast-Food-Laden bekommt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Rest Afrikas die niedrigste Diabetes-Inzidenz weltweit aufweist. Oder wenn man erfährt, dass Galen [129-216 n. Chr.], einer der berühmtesten Ärzte der europäischen Antike, im Laufe seiner gesamten Karriere nur zwei (2!) Fälle von Diabetes feststellte.
Ja, Sie verstehen, worauf wir hinauswollen: Es gibt eine starke Korrelation zwischen dem Anstieg von Diabetes weltweit und einer Ernährungsweise mit hohem Zucker- und verarbeitetem Lebensmittelanteil wie sie im Zuge der (Post-)Industrialisierung verfügbar wurde.
Anstieg, Abstieg und Absturz
Aber Sie müssen (noch) nicht mit Diabetes diagnostiziert werden, um bereits ein ernsthaftes Problem mit Zucker und/oder raffinierten Kohlenhydraten zu haben, wie in unserer Einleitung beschrieben.
Natürlich muss das morgendliche Croissant oder das Stück Schokolade abends noch nicht als schwere Sucht gelten. Wenn Sie jedoch einen guten Draht zu Ihrem Körper haben oder ein Blutzuckermessgerät tragen, werden Sie die beeindruckenden Auswirkungen Ihres kleinen süßen „Schusses“ deutlich wahrnehmen: einen euphorischen Blutzuckergipfel, gefolgt von Stumpfheit, Kollaps und Heißhunger.
Falls Sie diesen Zyklus mehrmals am Tag wiederholen, wird Ihr Stoffwechsel darunter wirklich leiden. In der Tat verursachen „HSDs [High Sugar Diets], Saccharose und damit Glukose und Fruktose eine Fehlregulation des Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsels im Körper. Der übermäßige Verzehr von Zucker fördert eine erhöhte Energiebilanz, Gewichtszunahme, Fettspeicherung und damit Übergewicht und/oder Fettleibigkeit“ (Witek & al., 2022).
Vielleicht wird ein aktiver Lebensstil oder andere schützende Faktoren Sie vor Übergewicht oder Diabetes bewahren. Aber sie könnten andere beunruhigende Anzeichen wahrnehmen, die darauf hindeuten, dass Ihr Stoffwechsel überlastet ist.
Dies war der Fall bei der französischen Biochemikerin und Influencerin Jessie Inchauspé, die ihre gesundheitliche Odyssee in ihrem ersten Bestseller Glucose Revolution beschrieb. Ihre beeindruckende Genesung nach einem lebensbedrohlichen Unfall wurde durch lähmende und scheinbar unlösbare psychische Probleme getrübt. Zufällig hatte Inchauspé eine Erleuchtung, als sie an einer Studie teilnahm, bei der sie ein Blutzuckermessgerät rund um die Uhr trug. Sie bemerkte eine starke Korrelation zwischen ihrer Zucker- bzw. Kohlenhydrataufnahme und ihren Stimmungen, was sie dazu veranlasste, ihre traditionell süße französische Ernährung erst infrage zu stellen und dann umzustellen.
Lang lebe – man ohne – Zucker!
Zu guter Letzt scheint eine hohe Zuckeraufnahme einen schädlichen Einfluss auf die Langlebigkeit zu haben, auch wenn die Zuckerlobby und die von ihr gesponserten Studien Sie gerne vom Gegenteil überzeugen würden.
Eine der am meisten diskutierten Auswirkungen von Zucker auf die Langlebigkeit ist die Zunahme der sogenannten Advanced Glycation End Products (AGEs) in der Ernährung. Kurz gesagt handelt es sich dabei um „eine heterogene, komplexe Gruppe von Verbindungen, die entstehen, wenn reduzierender Zucker auf nichtenzymatische Weise mit Aminosäuren in Proteinen und anderen Makromolekülen reagiert. Dies geschieht sowohl exogen (in Lebensmitteln) als auch endogen (im Menschen), wobei ältere Erwachsene höhere Konzentrationen aufweisen“ (Luevano-Contreras et al., 2010).
Seit den 1990er Jahren werden AGEs zunehmend mit „altersbedingten Stoffwechselkrankheiten wie dem metabolischen Syndrom, diabetischen Komplikationen sowie neurodegenerativen Erkrankungen“ in Verbindung gebracht (Chaudhuri et al., 2018). Ihre Auswirkungen lassen sich als Modulation des oxidativen Stresses zusammenfassen, der dann chronische Entzündungen im Körper schürt.
Tatsächlich ist die Reduzierung von Entzündungen meist selbst für Laien spürbar, wenn man eine Zuckerpause einlegt – sei es durch den Verzicht auf zugesetzten Zucker, die Begrenzung von Kohlenhydraten oder eine umfassendere Diätumstellung auf z.B. Paleo- oder Atkins-Ernährung. Nach einer möglicherweise unangenehmen Entzugsphase wird der Teint klarer und das Gehirn aufgeweckter. Auch kehrt die Energie meistens zurück und die Gelenk- oder Muskelschmerzen lassen deutlich nach.
Sich der „harmlosen“ kleinen Schwäche stellen ...
„Aber wie soll ich das nur bewerkstelligen?“, fragen Sie sich vielleicht verzweifelt. Tatsächlich kann sich das Weglassen der kleinen täglichen „Zuckersünde“ fast genauso herausfordernd anfühlen wie die Umstellung einer sehr ungesunden Ernährung, die reich an verarbeiteten Lebensmitteln ist.
Wir bei epiAge sind fest davon überzeugt, dass es keine „Einheitsgröße“ gibt, wenn es um die Regulierung des Lebensstils und damit auch um die Zuckerbewältigung geht. Was für den einen einem Wunder gleicht, funktioniert für den anderen vielleicht überhaupt nicht.
Was wir jedoch feststellen, ist, dass aufgrund der menschlichen Psychologie kleine stufenweise Veränderungen in der Regel nachhaltiger sind als umfassende radikale Umstellungen. Wenn Sie sich jedoch als Zucker-Junkie bezeichnen würden, müssten Sie möglicherweise doch einen „Tabula-rasa-Ansatz“ ergreifen – zumindest anfangs.
Da die übermäßige Zuckerzufuhr inzwischen als Haupt-Übeltäterin in unserer Ernährung erkannt wurde, sind eine ganze Reihe an Methoden von Ärzten oder anderen wissenschaftlich ausgebildeten Fachleuten entwickelt worden. Wir ermutigen Sie also, frei zu experimentieren – mit kleinen Tricks und Anstößen wie bei Jessie Inchauspé oder mit umfassenderen Umstellungen wie bei Mark Hyman, Michael Mosley und Richard Bernstein, um nur einige Autoren zu nennen.
Egal in welcher Form Sie Ihre Zuckerreduzierung letztlich bewerkstelligen, wird Ihr Weg in eine zwar weniger süße, aber definitiv glücklichere und gesündere Zukunft führen!
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Quellen und weiterführende Literatur
Ogrotis I, Koufakis T, Kotsa K. "Changes in the Global Epidemiology of Type 1 Diabetes in an Evolving Landscape of Environmental Factors: Causes, Challenges, and Opportunities". Medicina (Kaunas). 2023 Mar 28;59(4):668. doi: 10.3390/medicina59040668. Online: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10141720/
“Type 2 diabetes”. https://en.wikipedia.org/wiki/Type_2_diabetes
“IDF Diabetes Atlas”. International Diabetes Federation. Online: https://diabetesatlas.org/
Cheran K, Murthy C, Bornemann EA, Kamma HK, Alabbas M, Elashahab M, Abid N, Manaye S, Venugopal S. “The Growing Epidemic of Diabetes Among the Indigenous Population of Canada: A Systematic Review”. Cureus. 2023 Mar 15;15(3):e36173. doi:10.7759/cureus.36173. Online: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10103803/
Baniissa W, Radwan H, Rossiter R, Fakhry R, Al-Yateem N, Al-Shujairi A, Hasan S, Macridis S, Farghaly AA, Naing L, Awad MA. "Prevalence and determinants of overweight/obesity among school-aged adolescents in the United Arab Emirates: a cross-sectional study of private and public schools”. BMJ Open. 2020 Dec 12;10(12):e038667. doi:10.1136/bmjopen-2020-038667. Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33310793/
Sugar in the Caribbean. HCC (Healthy Caribbean Coalition). Online: https://www.healthycaribbean.org/sugar-caribbean-infographics/
Zajac J, Shrestha A, Patel P, Poretsky L (2009). "The Main Events in the History of Diabetes Mellitus". In Poretsky L (ed.). Principles of diabetes mellitus (2nd ed.). New York: Springer. pp. 3–16.
Witek K, Wydra K, Filip M. “A High-Sugar Diet Consumption, Metabolism and Health Impacts with a Focus on the Development of Substance Use Disorder: A Narrative Review”. Nutrients. 2022 Jul 18;14(14):2940. doi:10.3390/nu14142940. Online: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9323357/#B32-nutrients-14-02940
Inchauspé, Jessie, Glucose Revolution: The Life-Changing Power of Balancing Your Blood Sugar. New York: Simon & Schuster, 2022.
Wilkinson, Amy. “Jessie Inchauspé on Surviving The Harrowing Accident That Set Her Life On A New Course”, Women’sHealth, 22.03.2023. Online: https://www.womenshealthmag.com/life/a43129915/jessie-inchauspe-glucose-goddess-method/
Luevano-Contreras C, Chapman-Novakofski K. “Dietary advanced glycation end products and aging”. Nutrients. 2010 Dec;2(12):1247-65. doi:10.3390/nu2121247. Online: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3257625/
Chaudhuri J, Bains Y, Guha S, Kahn A, Hall D, Bose N, Gugliucci A, Kapahi P. “The Role of Advanced Glycation End Products in Aging and Metabolic Diseases: Bridging Association and Causality”. Cell Metab. 2018 Sep 4;28(3):337-352. doi:10.1016/j.cmet.2018.08.014. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6355252/
Chiu DT, Hamlat EJ, Zhang J, Epel ES, Laraia BA. “Essential Nutrients, Added Sugar Intake, and Epigenetic Age in Midlife Black and White Women: NIMHD Social Epigenomics Program”. JAMA Netw Open. 2024 Jul 1;7(7):e2422749.doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.22749. Online: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11287388/
Hyman, Mark. The Blood Sugar Solution: The Ultrahealthy Program for Losing Weight, Preventing Disease, and Feeling Great Now. New York, NY: Little, Brown and Co, 2012.
Mosley, Michael. The 8-Week Blood Sugar Diet: How to Beat Diabetes Fast (and Stay off Medication). New York: Atria Books, 2016 (First ed.).
Bernstein, Richard K., Dr. Bernstein's Diabetes Solution: The Complete Guide to Achieving Normal Blood Sugars. Little, Brown & Company, 2011 (Hardcover 4th ed.).
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