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I. Resilienz

Harte Wissenschaft trifft auf widerspenstiges Leben

Dr. Gwen Bingle
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3.5.2023

Resilienz Teil 1 - Resilienz Teil 2 - Resilienz Teil 3

Resilienz – Modebegriff oder alte Ressource?

Wer hat nicht von Resilienz schon gehört? Meistens in Zusammenhang mit schweren kollektiven oder persönlichen Krisen: die Resilienz der Flüchtlinge, die Resilienz der Nachbarin nach dem Tod des Ehemanns…

Ein Blick auf die Regale Ihres Lieblingsbuchladens wird Ihnen aber verraten, dass Resilienz allgegenwärtig schlummert: im Unternehmen wie in der Umwelt, bei „Navy Seals“ und Kindern, in Körper und sogar Psyche. Von Wirtschaft zu Ökologie und Selbsthilfe: kaum ein Bereich scheint vom Trend verschont zu bleiben.    

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Resilienz - Szene 1

Der Überlebende  

Hamza sitzt in der Hocke und raucht. Welcher 85-jährige Europäer tut dies noch – und scheinbar so mühelos auf einem Bein?  

Hamza ist vor vier Monaten aus dem Jemen geflohen. Frau Fischer, die Sachbearbeiterin, mustert ihn, sichtlich genervt. Der Mann schweigt. Neben ihm blickt der junge Dolmetscher auf Sie flehend und… machtlos. Er zuckt mit den Schultern – auch er kann Hamza nichts mehr entlocken.  

Frau Fischers Blick streift auf Hamzas Stumpf, sie zuckt kurz und schaut wieder weg. Dann beobachtet sie Hamzas ledrig-zerknitterte Hände mit den violetten Venen. Sie sieht, welche verzweigten Bäche sie zwischen den Knochen in den dunkleren Tälern malen. Und auf einmal merkt sie auch den schimmernden Abgrund in den milchig verschleierten Augen.

„Asyl vorerst gewährt“ stempelt sie auf dem Fragebogen.

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In seinem neuesten Buch spricht Jeremy Rifkin, der berühmte amerikanische Ökonom und Publizist, sogar vom Aufbruch in ein Zeitalter der Resilienzals Nachfolger einer Effizienz-Ära. Was sollen wir denn davon halten? Wird Resilienz uns wie „Nachhaltigkeit“ noch lange begleiten? Oder schnell durch eine andere modische Kreation ersetzt werden?  

Tatsächlich ist Resilienz aber keine Neuschöpfung. Schon im 17. Jahrhundert beschrieb das Wort eine Bewegung: der druckbedingte Rückprall oder die Rückfederung und damit, die Rückkehr zu einer ursprünglichen Form. Im Laufe des 19. Jahrhunderts – bedingt durch das Vorpreschen der Physik und der Materialkunde – rückte dann die Elastizität von mechanischen Teilen in den Vordergrund. Parallel wurde Resilienz im übertragenen Sinne zum Synonym menschlicher Widerstandsfähigkeit, wie es in der Definition des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hervorgehoben wird.

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Der Begriff der Resilienz wird in verschiedenen Wissenschaften benutzt, unter anderem in der Physik, in der Soziologie und der Medizin. In der Materialkunde bezeichnet er Stoffe, die auch nach extremer Spannung wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren. Übersetzt wird er häufig als „Widerstandsfähigkeit“.    

Bezogen auf den Menschen beschreibt Resilienz die Fähigkeit von Personen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen. […] Nicht resiliente Menschen und Gesellschaften werden häufig als vulnerabel bezeichnet.    

Lexicon der Entwicklungspolitik BMZ

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Aber erst im 20. Jahrhunderts erlangte der Begriff durch seine rege Verwendung sowohl in der Psychologie als auch in der Physiologie Hochkonjunktur. Schließlich war es aber seine Aneignung durch die aufkeimende Ökologie, die Resilienz zu einer erstrebenswerten systemischen Eigenschaft kürte, bevor die Sozialwissenschaften ihn auch adoptierten (s. Hellige, 2019). Da die Genetik und die Neurobiologie sich mittlerweile auch mit Resilienz auseinandersetzen, macht der Begriff eine steile Karriere. Tatsächlich lieferte eine kleine Google-Recherche zum englisch-sprachigen „resilience“ Begriff vor kurzem etwa 778 Millionen Ergebnisse, sodass sein Statusals „nachhaltiges Modewort“ gesichert erscheint.      

Resilienz als dynamischer Prozess

Zusammengefasst können also nicht nur technische Teile und Menschen, sondern auch Gemeinschaften und Landschaften (inklusive Pflanzen und Tiere) resilient oder, umgekehrt, vulnerabel sein. Wichtig ist aber, dass keiner dieser Zustände für immer festgelegt ist. Ganz im Gegenteil: Resilienz ist vorwiegend ein Prozess, der scheinbar von außen katalysiert wird. Um Resilienz zu erzeugen, braucht es tatsächlich Druck, ob mechanisch, geopolitisch oder existentiell. Allerdings muss dieser Druck nicht zwangsweise negativ sein. Eine chemische oder organisatorische Veränderung kann durchaus positiv (gemeint) sein. Andersherum kann Resilienz auch negativ besetzt werden, wenn schlechte Systeme sich trotz konstruktiver Impulse aufrecht erhalten.  

Roter Stressball mit Daumen

Veränderung ist hier der Schlüssel beziehungsweise der Antrieb der Resilienz. Die meisten Systeme – ob Biotop oder Gemeinschaft – streben nach Stabilität in Form einer Homöostase: der „Gleichgewichtszustand eines offenen dynamischen Systems“ (Wikipedia). Dennoch ist diese Balance fragil. Verschleiß sowie Eindringlinge, Umwelteinflüsse oder Konflikte stellen die häufigsten Bedrohungen dar und zwingen das System sich anzupassen, wenn es bestehen will.

Der tiefenresiliente Mensch

In der Hinsicht ist der Mensch ein besonders spannendes Beispiel, da er als Mikrokosmos auf vielen Ebenen potenziell vulnerabel und resilient ist. Je nach Perspektive kann er als ganzheitliches Ökosystem oder als biochemische Maschine wahrgenommen werden. Selbst bei einer sehr materialistischen Weltanschauung wirkt er zutiefst interaktiv. Tatsächlich hätte er seine Evolution ohne permanenten Dialog nicht überstanden. Beim Menschen geschieht dieser Dialog einerseits intern. „Dialog“ greift in dem Fall allerdings zu kurz: eine ausgeklügelte Kakophonie, die den Status einer Symphonie anstrebt – wäre treffender formuliert. Stellen Sie sich die „Gespräche“ zwischen Zellen und Organen, oder zwischen Neuronen und Bewohnern des Mikrobioms vor, und wie diese Austausche wiederum komplexe metabolische Prozesse steuern. Und das sind nur zwei Beispiele unter Abermillionen paralleler Gespräche, die in Ihrem Körper gerade stattfinden…  

Mädchen auf Strand kneift das Auge eines Spielzeugs

Diese schwindelerregende Vielfalt spiegelt sich aber auch in der Interaktion zwischen Menschen und Umwelt wider. Permanent passen sich Organismus und Psyche an äußerliche Reize an – mal gut, mal weniger. Letztendlich ist Resilienz ein mögliches Ergebnis dieser mehrstufigen Auseinandersetzung. Schafft es ein Mensch, seine innere und äußere Homöostase trotz Widrigkeiten aufrecht zu erhalten, gilt er als resilient. Aber wie funktioniert Resilienz im Menschen genau?

Menschliche Resilienz: das wissenschaftliche Knäuel entwirren

Im Menschen fängt die Herausforderung schon bei der Definition der Resilienz an: Ist es der dynamische Anpassungsprozess, den wir gerade beschrieben haben, das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit schwierigen Umständen oder ein persönliches Merkmal, das dem Individuum hilft, mit Widrigkeiten erfolgreich umzugehen? Wahrscheinlich gelten alle drei Definitionen zugleich; vereint sind die Thesen jedenfalls durch die Elemente des negativen Reizes und der erfolgreichen Anpassung (s. Liu & al. 2018).

Seilknäuel

Der nächste Knoten, der kaum gelöst werden kann, ist die Tatsache, dass Menschen (wie auch andere Lebewesen) Widrigkeiten immer ganzheitlich begegnen. Ob man einer Beziehung nachtrauert, unter extremen Temperaturen leidet, sich beim Hämmern verletzt oder von Dieben zusammengeschlagen wird, treffen einen die Auswirkungen immer körperlich und seelisch – ob sichtbar oder nicht. Dies hängt damit zusammen, dass die Aufnahme und Verarbeitung der Reize von (epi-)genetischen, neurochemischen sowie psychologischen und anderen Entwicklungsfaktoren beeinflusst werden (s. Wu& al. 2013). All diese Ebenen sind wiederum eng miteinander verbunden und verstärken einander. Je nachdem wie das Individuum ausgestattet ist und was es schon erlebt hat, ergibt sich entweder Resilienz oder Vulnerabilität. Dies ist mitunter ein Grund, warum die Mehrheit wissenschaftlicher Studien zum Thema aus der psychiatrischen und sozialwissenschaftlichen Forschung stammen.

In dieser „seelisch“ geprägten Forschung wurden verschiedene Resilienzfaktoren, wie familiäre Bindung und soziale Netzwerke, existentielle Kohärenz, berufliche Zufriedenheit, oder wirtschaftliche Umstände, schon längst identifiziert und gemessen. Insbesondere Studien über Kinder und Jugendliche sind oft einer präventiven Perspektive geschuldet, da die Weichen für Resilienz beziehungsweise Vulnerabilität meistens früh gelegt werden. Aber auch Erwachsene, die mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Depression oder Sucht kämpfen, können von gezielter Unterstützung profitieren.

Resilienz Schrift - Kunstwerk

Tatsächlich setzen viele Studien der letzten 10 Jahre auf hybride Ansätze aus Neurobiologie, Psychiatrie, Psychologie und Soziologie (s. exemplarische Beispiele in den Quellen). Daraus entsteht eine breite Palette an therapeutischen Interventionen – von tiefer Hirnstimulation (THS) zu intensiver Achtsamkeitsmeditation über epigenetisch wirkende Moleküle oder Lebenskompetenzen-Trainings. Auch wenn sie sich über genaue Definitionen immer noch nicht einig sind und weiterhin an innovativen hybriden Therapien tüfteln, sind sich mittlerweile sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften einig, dass menschliche Resilienz als biopsychosoziales Phänomen betrachtet werden soll. Folglich kann sie nicht eingleisig gefördert werden, weil ihre Entstehung einer meist multifaktoriellen, dynamischen und zum Teil sehr persönlichen Entwicklung zugrunde liegt.

Von Krisen-Resilienz zur Alltags-Stärkung

„Gut und schön“ werden Sie vielleicht sagen, „ich hatte eine halbwegs normale Kindheit, ich leide nicht an PTBS und achte auf meine Lebensführung, was soll mir das Ganze denn bringen? Ich habe ja nur Angst vor Krieg und Klima“. Womöglich denken Sie aber: „Ich passe schon auf meine Herzgesundheit und meinen Zuckerkonsum auf, aber welche Kontrolle – wenn überhaupt – habe ich, wenn es bei mir richtig stressig wird?“ Viel mehr Kontrolle als Sie denken, werden Ihnen unsere Omas und die Wissenschaft in Folge 2 und 3 unserer Chronik verraten…

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Niemand behauptet, dass Resilienz ein Rezept für Glück ist. Sie ist eine Strategie im Kampf gegen das Unglück, mit der man dem Leben trotz der flüsternden Gespenster in den Tiefen der eigenen Erinnerung Freude abringen kann.    

Boris Cyrulnik

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Aber bevor wir die wichtigsten körperlichen und seelischen Grundlagen der Resilienz untersuchen, die Sie im Alltag auch selbst beeinflussen können, kann folgende Metapher gegen die gefühlte Ohnmacht Mut machen. In seinem kleinen Opus „Kunst des Handelns“ („Arts de faire“, 1980), wollte der französische Soziologe Michel de Certeau das Bild des passiven Verbrauchers aufrütteln und zeigen, wie er Konsum auch aktiv mitgestaltet. Bis dahin wurden Verbraucher in Design und Marketing meist als „ausgelieferte Opfer“ hinterlistiger Produzenten wahrgenommen. In seinem Modell analysierte er zuerst die tatsächliche Macht der Produzenten mit ihren langfristigen Strategien, die auf räumlicher und zeitlicher Kontrolle basieren. Demgegenüber stellte er die subversive Macht des Verbrauchers dar, der seine Taktiken spontan einsetzt. Als Einzelkämpfer hat er das Spielfeld zwar nicht unter Kontrolle, aber er ist flink und kreativ und kann Lücken im System schnell aufspüren und für sich erfolgreich nützen. 

Also selbst wenn Sie den Eindruck haben, dem aktuellen Chaos machtlos ausgeliefert zu sein, gibt es dennoch viele Taktiken und sogar längerfristige Strategien, mit denen Sie besser durchkommen können. Lassen Sie uns Ihre alltägliche Resilienz in kleinen Schritten stärken, um dem Krisengeschehen viel gelassener zu begegnen, als Sie es je für möglich hielten! 

Weiter geht es hier:

Teil 2 – Resiliente Körper: Stärke ist keine Mangelware!

Und hier:

Teil 3 – Beseelt durch die Krise: Balance-Strategien für ungewisse Zeiten

Und hier war unsere Ankündigung: https://www.epi-age.de/blog/resilienz-in-sturmischen-zeiten

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Quellen:

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, „Lexicon der Entwicklungspolitik BMZ“: https://www.bmz.de/de/service/lexikon/70564-70564  (letzter Zugriff: 05.03.2023)

macmillandictionary blog, “Word of the Day: resilient”: https://www.macmillandictionaryblog.com/resilient (letzter Zugriff: 04.12.2022)

Knuth, Kate, “The term ‘resilience’ is everywhere — but what does it really mean? As resilience moves from technical term to buzzword, there’s value to be had in clarifying exactly what it is we’re talking about”, Ensia, 07.05.2019: https://ensia.com/articles/what-is-resilience/ (letzter Zugriff: 05.03.2023)

Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben neu denken auf einer wilden Erde. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2022

Hellige, Hans Dieter, “The metaphorical processes in the history of the resilience notion and the rise of the ecosystem resilience theory”. In: M. Ruth & St. Goessling-Reisemann (Eds) Handbook on Resilience of Socio-Technical Systems, Cheltenham UK: Edward Elgar Publishing, 2019, pp.30-51. S. auch Preprint-Version hier: https://media.suub.uni-bremen.de/bitstream/elib/4775/1/217_paper.pdf (letzter Zugriff: 05.03.2023)

“Homöostase”, Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase (letzter Zugriff: 05.03.20232)

Liu H, Zhang C, Ji Y, Yang L. Biological and Psychological Perspectives of Resilience: Is It Possible to Improve Stress Resistance? Frontiers in Human Neuroscience. 2018 Aug 21; 12:326. https://doi.org/10.3389/fnhum.2018.00326 Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6110926/ (letzter Zugriff: 05.03.2023)

Gang Wu, Adriana Feder, Hagit Cohen, Joanna J. Kim, Solara Calderon, Dennis S. Charney and Aleksander A. Mathé, “Understanding resilience”, Frontiers in Behavioural Neuroscience, Frontiers in Behavioral Neuroscience, Volume 7, Article 10, 15 February 2013, https://doi.org/10.3389/fnbeh.2013.00010 Online: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnbeh.2013.00010/full (letzter Zugriff: 05.03.2023)

Steven F. Maier, Jose Amat, Michael V. Baratta, EvanPaul & Linda R. Watkins, “Behavioral control, the medial prefrontal cortex,and resilience”, Dialogues in Clinical Neuroscience, 8:4, 2006 397-406, https://doi.org/10.31887/DCNS.2006.8.4/smaier Online: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.31887/DCNS.2006.8.4/smaier?needAccess=true (letzter Zugriff: 05.03.2023)

De Certeau, Michel, « L’Invention du Quotidien. Vol. 1, Arts de Faire », Paris: Gallimard, 1980. (Deutsche Ausgabe: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié. Merve, Berlin 1988).

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Abbildungen:

Abbildung 1:

Bild von Edu Carvalho / pexels

https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-mit-braunem-overall-2050999/ (letzter Zugriff: 04.12.2022)

Abbildung 2:

Bild von SauLustig / pixabay

https://pixabay.com/de/photos/stress-stressball-rot-gesicht-704402/  (letzter Zugriff: 04.12.2022)

Abbildung 3:

Bild von Kindel Media / pexels

https://www.pexels.com/search/squishy%20toy/ (letzter Zugriff: 04.12.2022)

Abbildung 4:

Bild von pixabay / pexels

https://www.pexels.com/de-de/foto/braune-seile-39279/ (letzter Zugriff: 04.12.2022)

Abbildung 5:

Bild von Ann H. / pexels

https://www.pexels.com/photo/resilience-text-on-pink-ink-6980524/ (letzter Zugriff: 04.12.2022)

 

BEITRAG VON
Dr. Gwen Bingle
epiAge Deutschland Content & Customer Relations
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